
Sein Name ist Programm
Im folgenden Text soll es um den jüdischen Hintergrund des Vaterunsers gehen. Das Vaterunser enthält sieben Bitten. Bei den ersten drei geht es um Gottes Wirklichkeit in unserem Leben, in unserer Gemeinde und in dieser Welt. In den folgenden vier Bitten geht es um die notvolle Wirklichkeit in unserem Leben und in dieser Welt.
Dieses Gebet ist das Leben und die Wirklichkeit der Gemeinde Gottes, die anbetend vor ihm steht. Aber dieses Gebet anerkennt auch die Wirklichkeit Gottes, der in seiner Gemeinde leben will. Beides ist in der ganzen Tiefe nicht auszuloten und in der Größe nicht zu ermessen – die Wirklichkeit Gottes und die seiner Gemeinde.
Allen Bitten voran steht als erstes: Geheiligt werde dein Name. Der Name Gottes wurde einst Mose in der Wüste offenbart. Dorthin war er geflohen, nachdem er zum Mörder geworden war. Schuldbeladen erlebt er die Wirklichkeit Gottes am brennenden Busch. Vor dieser Wirklichkeit muss er die Schuhe ausziehen und niederfallen. Da offenbarte Gott seinen Namen: „Jahwe.“ Das will heißen: „Ich bin, der ich bin“, der ich ewig war, bin und ewig sein werde. Jahwe, der ewig Seiende, dein Gott.
Mit diesem Namen verbindet sich der Herrschaftsanspruch Gottes über Israel und sein Eigentumsrecht an Israel. Die jüdische Gemeinde weiß, dass der Name Gottes wie eine Last auf Israel liegt, der man nie entrinnen kann. Wie viele Juden sind unter diesem Namen und seiner Heiligkeit in den Tod gegangen!
„Dein Name werde geheiligt“, das heißt, das Eigentumsrecht Gottes und seinen Herrschaftsanspruch über uns anzuerkennen, dass sein Wille geschehe in uns, bei uns und durch uns, dass sein Wille geschehe heute und morgen, dass sein Wille geschehe in meinen Leben und im Leben meiner Familie, dass sein Wille geschehe im Leben meines Volkes und in dieser Welt. Ja, das alles heißt: „Geheiligt werde dein Name.“
Der Heilige
Im Kaddischgebet, dem Schlussgebet am Ende des Gottesdienstes, das die Juden auch über Verstorbene sprechen, wird bei allem Schmerz dennoch Gottes Tun, sein Wille, anerkannt, auch wenn man ihn oft nicht verstehen kann. Da heißt es: „Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt. Gerühmt, verherrlicht, gefeiert und gepriesen sei der Name des Heiligen, gelobt sei er. Darauf sprechet: Amen!“
Mit großer Zurückhaltung, mit Ehrfurcht und Scheu, auch mit Betroffenheit näherte sich die alttestamentliche Gottesgemeinde dem Tempel am Versöhnungstag, dem Jom Kippur. Dort durfte der Hohepriester – und das geschah nur ein einziges Mal im Jahr – den Namen Gottes über das Volk aussprechen und ihn somit auf das Volk legen: Jahwe. Kein Jude wird dieses Jahwe in den Mund nehmen, sondern immer in Ehrfurcht umschreiben mit Adonai, also Herr, oder mit Ewiger, Allmächtiger, Barmherziger oder ähnlichem. Geheiligt werde sein Name, denn „der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht“.
Mit dem Namen Gottes begegnet uns Gottes Wirklichkeit, die vor uns und über uns steht, seine Allmacht, seine Herrschaft – und auch sein Gericht, in dem ich verloren und dem Tod verfallen bin. Vor diesem Gott kann ich als einzelner nicht stehen und antworten, auch wenn es nur ein Stammeln wäre. Da brauche ich die Schwestern und Brüder in der Gemeinde neben mir, hinter mir und vor mir: „Unser Vater!“ Auch wenn ich es allein und im stillen Kämmerlein spreche, so stehen sie doch alle mit mir zusammen vor Gott: Unser Vater! „Dein Name werde geheiligt.“
Gottes Zorn über meine Sünden ist sein Gericht. Dem kann ich nur entgehen, wenn er mir vergibt, wenn mir sein Erbarmen begegnet, wenn er auslöscht die Stunden und Tage, in denen ich seinen Namen nicht geheiligt habe. In der jüdischen Lehre heißt es: „Die Entheiligung des göttlichen Namens ist die schwerste aller Sünden.“ Oder noch schlimmer: „Keine Vergebung erlangt, auf dem die Schuld der Entheiligung des göttlichen Namens liegt.“
Heil und Heiligung
„Geheiligt werde dein Name“ – durch mich! Auch an meinem Nächsten. Denn in ihm begegnet mir ein Mensch, den Gott wie mich nach seinem Vorbild geschaffen hat, ein Stück Gotteswirklichkeit, auch wenn sie noch so sehr verdunkelt wurde durch Sünde und Schuld. Und auch, wenn sich darin die Würde des Menschen verdunkelt, die Gotteswürde bleibt unberührt. Und deshalb stehen vor meiner Seele all die Missverhältnisse in meinem Leben; der Ärger, den ich anderen bereitet habe; der Zorn, der Streit, die Missgunst, die mangelnde Hilfsbereitschaft und auch die vielen Lügen. Wie kann ich da vor Gott treten und sagen: „Ich habe deinen Namen heilig gehalten in meinem Leben?“ Da kann ich doch nur noch stammeln: „Gott sei mir Sünder gnädig!“ Und der andere, dem ich mich verweigere, weil er Unrecht an mir getan hat, wenn darüber Enttäuschung und Schmerz tief sitzen und ich davon nicht mehr frei werde? „Dein Name werde geheiligt: Darum vergib uns unsere Schuld!“ Im griechischen Text des Neuen Testaments heißt es an dieser Stelle: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir unseren Schuldigern vergeben haben“ – also wie wir es bereits taten. Schuld ausräumen im gegenseitigen Vergeben, das heißt Gottes Namen heiligen. Das ist wie Gottes Wort, das tägliche Brot, von dem wir leben, von dem die Gemeinde Gottes lebt! Denn Vergebung schafft Heil und Heilung, Vergeltung aber lässt hassen. „Dein Name werde geheiligt.“ Davon lebt unsere Seele, wie unser Leib von der täglichen Nahrung lebt, die wir für uns und unseren Nächsten empfangen, was wir leicht vergessen: „Unser tägliches Brot gib uns heute“ – unser tägliches Brot.
Unsere Realität
Es gehört zum Willen Gottes, dass das Böse in uns und um uns überwunden wird. Nur so regiert die Gottesherrschaft, geschieht Reich Gottes, nicht nur im Himmel, sondern unter uns auf Erden, in seiner Gemeinde. Durch sie wird Gott der melech ha olam, der König der Welt. Und wir bitten damit auch, dass einmal die Königsherrschaft Gottes die ganze Erde, die Welt, den Kosmos füllen wird und dass dann für immer sein Reich Wirklichkeit ist. Aber das beginnt jeden Tag, das fängt hier und heute an: „Geheiligt werde dein Name! Dein Reich komme!“
Jesus hat gewusst, dass seine Gemeinde nicht aus Übermenschen oder Engeln besteht. Er kannte die Versuchlichkeit des Menschen, seine Verführbarkeit, seine Ohnmacht gegenüber dem Bösen, seine Täuschungen und Selbsttäuschungen, in denen er glaubt, ohne Gottes Wort und gegen seinen Willen entscheiden, handeln und leben zu können. Wie könnte ein Jünger da bestehen – auch in den Anfechtungen, Irrungen, Zweifeln und Ungewissheiten –, wenn ihm nicht beigestanden wird, wenn er allein der Macht des Bösen ausgeliefert ist? Darum: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“
Gewiss, die Gemeinschaft der Glaubenden gibt Halt, richtet Strauchelnde und Fallende wieder auf, hält Herzen und Hände frei. Aber doch nur deshalb, weil die Gemeinde ausgerichtet ist auf den Einen, der in ihrer Mitte steht und jedem zur Seite stehen will, dessen Hände nicht loslassen wollen, dem wir uns jeden Morgen neu anvertrauen dürfen: „Führe uns und leite uns in deinem Geist, durch diesen Tag, durch die kommende Woche.“
Einem gelingt es
„Dein Name werde geheiligt“ − keiner hat diese Bitte so verwirklicht wie Jesus Christus, und das tat er um unseretwillen. Heiligung und Heil, wir erfahren es durch den Namen Jesu, Jeschua ha Maschiach, Jesus Christus. Das heißt doch, der Messias, der König Gottes, der Christus Gottes ist unsere Hilfe. Jeschua − Gott hilft! In Jesus begegnet uns die ganze Güte und Liebe Gottes. Was Gott von uns Menschen will, was er von Israel gefordert hat: die Hingabe an seinen Willen und ein Leben unter ihm – das führt er uns mit Jesu Leiden und Sterben vor Augen. Hier geschieht die Öffnung des letzten Geheimnisses im Namen Gottes: „Ich bin Jahwe, dein Gott, ich bin dein.“ Diese Liebeserklärung beinhaltet die Hingabe der Güte und Liebe Gottes an uns. So wird die Dornenkrone das Zeichen der Königsherrschaft, der Liebe Gottes, verbunden mit seinem Schmerz über diese Welt, über seine Schöpfung, über seine Menschen, die er auch im Gericht nicht aufgeben will. Die Heiligung seines Namens − in Jesus vollbringt er sie selbst!
Wie können wir da abseits stehen und gleichgültig bleiben? Jeschua ha Maschiach: Gott ist Hilfe! „Vater unser, geheiligt werde dein Name!“ Darum: Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft und seine Güte nicht von mir wendet. Geheiligt bleibe dein Name!
Aus: Israels Feste, Was Christen davon wissen sollten, Neukirchner Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 7. Auflage 2013