Meine Entscheidung
Länger ausgeholt….
war ich eigentlich glücklich mit meinen drei Kindern. Mein Mann, aufgewachsen mit vier Geschwistern, wünschte sich durchaus mehr Kinder, aber für mich war das Thema abgeschlossen. Ich hatte innerhalb von sechs Jahren drei Kinder zur Welt gebracht und kannte das große Glück, aber auch die große Mühe und Herausforderung, die damit verbunden waren, diese kleinen Menschen körperlich und emotional mit dem zu versorgen, was sie brauchen. Unsere Jüngste würde in absehbarer Zeit in den Kindergarten gehen. Mehr Freiräume für mich waren in greifbarer und ersehnter Nähe. In mein Tagebuch schrieb ich, dass ich Frieden hatte über die Anzahl meiner Kinder, dass ich bereit war für einen neuen Lebensabschnitt und dass der Anblick von Babys keine Sehnsüchte in mir weckte.
Dann besuchte uns Horst-Klaus Hofmann und hielt uns einen Vortrag, in dem er das Buch Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft erwähnte, von dem inzwischen verstorbenen Publizisten und Journalisten Frank Schirrmacher. Er erzählte von der darin geschilderten und analysierten Tragödie am Donnerpass in der Sierra Nevada im Jahr 1846. Ein Treck von Siedlern war durch einen frühen und heftigen Wintereinbruch auf seinem Weg in eine ausweglose Lage – ans Minimum – gekommen. Nur wenige überlebten. Der Anthropologe Donald Grayson wollte herausfinden, was entscheidend für ein Durchkommen am Donnerpass gewesen war. Das Ergebnis seiner Auswertung: Nicht die jungen Männer und Einzelkämpfer hatten die größeren Überlebenschancen, sondern: „Je größer die Familie war, desto größer war die Überlebenswahrscheinlichkeit des Einzelnen.“ (S. 16). Die abenteuerliche Überlebensgeschichte in Verbindung mit diesem Resultat machten mich neugierig auf das Buch und ich kaufte und las es.
„Minimum“ ist eine lesens- und bedenkenswerte Gesellschaftsanalyse. Ich möchte hier aber nur erwähnen, was mich in Bezug auf Kinder aufhorchen ließ: „Wo keine Kinder mehr leben, wachsen auch immer weniger Kinder nach“, so Schirrmacher (S. 72). Und: „Eine Gesellschaft, die auf Kinder verzichtet, verzichtet irgendwie auf ihre eigene Zukunft“ (S. 73). Weiter: „Menschen müssen Kinder nicht nur aufwachsen sehen, um selber welche zu bekommen, sie müssen Kinder auch erleben, um sie zu lieben. Und sie müssen sie lieben, ehe sie geboren sind, um sie zu wollen. Das zeigen die Ergebnisse einer innovativen Studie mit dem Titel „Wann führt die Zuneigung zu Kindern zur Elternschaft?“ (S. 73). Was die Haltung zu Kindern und zu Elternschaft beeinflusst, waren demnach nicht etwa kulturelle Unterschiede; entscheidend war die Anzahl der Geschwister, die eine Person hatte. Außerdem zeigte die Studie, „dass durch jüngere Geschwister ein soziales und altruistisches Verhalten eingeübt wird“ (S. 75). „Je seltener wir Kinder sehen, desto deutlicher sinkt der Wunsch nach ihnen. Und je weniger wir Kinder haben, desto geringer wird der Anteil altruistischer oder moralischer Ökonomie in unserer Gesellschaft“ (S. 75).
Ein bedenkenswerter Aspekt für die aktuellen Diskussionen rund um Ökologie und faire Ökonomie! Hinzu kommt das „soziale Kapital“, das Kinder schaffen: „Durch ihr pures Vorhandensein vernetzen sie eine Vielzahl vormals einander fremder Menschen“ (S. 71f.). Gleichzeitig ist sich Schirrmacher bewusst, dass Familien „keine Inseln der Seligen“ sind (S. 56). Er weist auf Konrad Lorenz‘ Anmerkung hin, dass Familien auch „Trainingslager in Sachen Kälte und Angst sind“. Für Lorenz sind beide Erfahrungen, die des Leidens und die des Altruismus, für die moderne Gesellschaft unbedingt notwendig (S.57).
Je mehr ich las, desto mehr wuchs in mir der Gedanke, ja, er überrumpelte mich regelrecht: „Ich möchte der Welt noch ein Kind schenken!“ Ich wog persönliche Vor- und Nachteile ab. Zu den Vorteilen gehörte: ich war noch jung, hatte noch Kraft; der Abstand zum dritten Kind war nicht zu groß; die Kinder waren schon so alt, dass sie das neue Geschwisterchen von Anfang an „bewusst“ erleben würden; ich hätte nach der „Kinderphase“ immer noch viele Jahre in der Berufs- und Arbeitswelt vor mir… Zu meinen Bedenken gehörten: ich müsste wieder von vorne anfangen; die Mühsal der Schwangerschaft und Babyzeit mit vielen Arztterminen hatte überhaupt keine Anziehungskraft; der anstehende Eintritt in die Kommunität mit Säugling war auch nicht meine Traumvorstellung von diesem Fest; weniger Zeit für mich; kaum Zeit und Kraft für geistige und praktische Arbeit in der Gemeinschaft; und: Entschleunigung. (Durchstarten, Schwung, Energie und Effizienz wären mir auch lieb gewesen.)
„Im Zweifel für das Leben“, sagte mir mein Seelsorger in dieser Zeit des Abwägens. Und auch Gott zwinkerte mir durch kleine Zeichen ermutigend zu. Ich traf dann irgendwann die Entscheidung: Ja, ich bin bereit für ein weiteres Kind! Mein Mann war sowieso dafür. Gott segnete unsere Entscheidung und wir bekamen unser viertes Kind.
Nun könnte man einwenden, dass es aus verschiedenen Gründen unverantwortlich sei, überhaupt Kinder in diese Welt zu setzen: eine Zumutung für das Kind selbst und für die Ressourcen des Planeten! Ich habe Verständnis für solche Bedenken, aber ich glaube nicht, dass sie die Lösung für die Probleme unserer Welt sind. Für den atheistischen Astrophysiker Stephen Hawking hängt das Überleben der Menschheit davon ab, „ob sie die Empathie retten könne“1, las ich vor kurzem. Eine bemerkenswerte Einschätzung! Und ist nicht die Familie ein wesentlicher Kulturboden für das Wachsen von Empathie?!
Dies ist die Geschichte meiner Entscheidung, die ich lebe und über die ich zutiefst glücklich bin.
Haller, Reinhard: Das Wunder der Wertschätzung. Gräfe und Unzer, München, 2019, S. 7 ↑