
Alles, was ich habe!
Verantwortung! Seit ich denken kann, begleitet sie mich. Als Kind hatte ich Verantwortung: für meine Spielsachen, für meine Mitarbeit in der Schule, für die großen und kleinen Aufgaben Zuhause. Gefühlte Verantwortung auch für die Stimmung am Küchentisch, denn meine Oma hörte mit und es war besser, man gab ihr keinen Stoff für böses Gerede über unsere Familie. Verantwortung dafür, dass ich mich möglichst gut verhielt, nicht weil mir das so gesagt wurde, sondern weil ich es so für mich deutete. Ich war überzeugt: Wenn ich mich gut verhalte und nach außen alles gut aussieht, habe ich nichts zu fürchten und auch den Menschen um mich herum geht es gut.
Mittlerweile bin ich 46 Jahre alt, habe vier Kinder zwischen 6 und 20 Jahren, jede Menge Lebens- und Seelsorgeerfahrung. Ich merke, dass ich immer noch dazu neige, für alles Mögliche Verantwortung zu übernehmen. Oft stehe ich mit ihr auf Kriegsfuß, weil ich sie mit einem „ich muss“ und mit innerem Druck verbinde. Ehe, Familie, Gemeinde, Beruf – überall Verantwortung! Und noch viel zu oft habe ich den Wunsch, dass nach außen alles gut aussieht und glückliche Familienfotos aus dem Urlaub gepostet werden. Über die Jahre nehme ich auch anderes wahr: Druck im Magen, Verspannungen im Nacken, chronisch entzündete Nebenhöhlen, Rücken- und Knieschmerzen und ein Bandscheibenvorfall mit 37 Jahren. Mein Körper sendet Botschaften. „Hallo! Nimmst du mich wahr? Nimmst du dich selbst wahr?“ - „Ja, aber ich habe doch Verantwortung!“, entgegne ich ihm und mache weiter.
Vor einigen Wochen hatte ich dieses Wort wieder einmal vor Augen. Verantwortung. Habe ich sie wirklich? Habe ich sie vielleicht auch für meinen Körper? Was heißt das überhaupt? Ver-antwort-ung. Warum Antwort?
Auf was antworte ich eigentlich die ganze Zeit? Und wer fragt?
Das Leben stellt uns Fragen, so habe ich es von Viktor Frankl gelernt. Wir sind herausgefordert, Antworten zu finden. Wir haben sogar die Freiheit geschenkt bekommen, auch unsinnige und lebenszerstörende Antworten zu geben. Und selbst in den ausweglosesten Situationen des Lebens haben wir noch die Möglichkeit, zu antworten. Nach Frankl besteht die letzte der menschlichen Freiheiten in der Wahl der Einstellung zu den Dingen. Freiheit und Verantwortung gehören also zusammen.
Im Duden lese ich, dass Verantwortung die mit einer bestimmten Aufgabe oder Stellung verbundene Verpflichtung ist, dafür zu sorgen, dass (innerhalb eines bestimmten Rahmens) alles einen möglichst guten Verlauf nimmt, dass das jeweils Notwendige und Richtige getan wird und möglichst kein Schaden entsteht.
Gilt das auch für meinen Körper, den Leib, den Gott mir geschenkt hat? Im Letzten weiß ich, dass ich Ihm gehöre, dass ich zu Ihm hin geschaffen wurde und dass mein irdischer Leib auf die Erlösung wartet, die eines Tages vollendet sein wird. Aber zwischen dem „Schon-jetzt“ und dem „Noch-nicht“ liegt ein Gestaltungsraum und eine Spannung. In 1 Mose 2 wird beschrieben, wie Gott den Menschen schuf und ihm den Odem des Lebens in die Nase blies. Im Anschluss daran machte Gott den Garten und setzte den Menschen hinein, dass er ihn bebaute und bewahrte (1 Mo 2,15). In diesem Garten war für das Bauen alles vorhanden: Wasser, Erde, Gestein, Pflanzen, wertvolle Bodenschätze und der Mensch mittendrin als Ebenbild Gottes und als kreatives Geschöpf.
Der Mensch ist Teil der Schöpfung und hat gleichzeitig einen Auftrag. Er hat also eine mit seiner Aufgabe und Stellung verbundene Verpflichtung. Es ist seine Verantwortung, die Erde zu hegen und zu pflegen und ihre Potenziale zu entwickeln. Gefordert wird ein gärtnerischer Umgang mit all dem, was ihm anvertraut wurde – also auch mit dem eigenen Körper.
Was heißt das jetzt für mich persönlich? Ich bin geschaffen. Gott hat mich wunderbar ausgestattet mit einem funktionierenden Körper, mit Gaben, mit Ressourcen, mit Kreativität und meinen ganz individuellen „Bodenschätzen“. Alles, was ich habe, darf und soll ich einsetzen. Es ist mir anvertraut und ich kann damit quasi in Gottes Auftrag wuchern, zum Beispiel indem ich mit meinem Leib meinen Kindern das Leben schenke.
Ich versuche mich zu
erinnern, dass es Anbetung
ist, wenn ich mich genug
bewege. Es ist Lobpreis,
wenn ich ausreichend
schlafe oder mich körperlich
entspanne und ich preise
Gott, wenn ich mir Zeit
nehme, ein gesundes
Essen vorzubereiten.
Gleichzeitig ist im Schöpfungsauftrag auch von Bewahren die Rede und nicht gnadenlos alles herausquetschen. In Bezug auf meinen Körper fällt mir das Bewahren, also das Hegen und Pflegen oft gar nicht so leicht. Vertraut ist mir, mich um mein inneres Befinden zu kümmern, darum, dass ich mein Herz, meinen Geist und meine Seele nähre, dass es mir innerlich gut geht.
Ich weiß, dass Bewegung, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf und Erholung meinem Körper und damit meinem ganzen Sein guttun. Ich weiß, dass meine Seele, mein Geist und mein Herz mit meinem Körper eine Einheit bilden. Einen Leib. Aber habe ich auch verstanden, dass ich meinen Auftrag in dieser Welt nur mit und in meinem Körper leben kann? Ich kann ihn nicht losgelöst von allem anderen betrachten oder ihn gar ignorieren. Es gibt ihn in diesem Leben tatsächlich auch nur ein einziges Mal. Unser Sinn kann sich erneuern (Röm 12,2) und Gott möchte uns ein neues Herz uns einen neuen Geist schenken (Hes 36,26). Unser physischer Leib aber erneuert sich nicht. Er ist hier auf Erden vergänglich. Gott hat den Rahmen gesetzt. Ich ahne, dass es innerhalb dieses Rahmens nicht nur nett ist, wenn ich meinem Körper mehr Aufmerksamkeit schenke, sondern dass ich dazu vom Schöpfer selbst beauftragt bin.
Wunderschön wird es in 1 Kor 6,19 ausgedrückt: Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?
Mein Leib ist ein Tempel. Er muss es nicht erst werden. Der Tempel im Alten Testament war ein über und über vergoldeter, heiliger Ort. Nur das Beste vom Besten wurde dafür verwendet, edelste Hölzer, aufwendige Schnitzereien (1 Kön 6). Die Herrlichkeit des Herrn erfüllte das Haus Gottes (2 Chr 5,14) und in seinen Mauern war Raum für Anbetung, in seinem Innern der Ort der Begegnung mit Gott selbst. Später erklang sogar Lobpreis in den Ruinen des Tempels (Esra 3,10-13).
Dein und mein Leib sind nicht weniger herrlich (auch wenn er uns manchmal eher wie eine Ruine vorkommen mag). Wir sind wunderbar geschaffen, vom Höchsten selbst geformt und meisterhaft ausgestattet. So spiegelt unser ganzes Wesen seine Herrlichkeit wider, weil er uns als seine Ebenbilder geschaffen hat. Unser Leib ist ein Ort der Anbetung und in uns findet echte Begegnung mit dem allmächtigen Gott statt. Ich finde diese Vorstellung fast zu groß für mein kleines Hirn. Aber ich will dem Glauben schenken, was ich in der Bibel lese und ich möchte Gott durch und mit meinem ganzen Leben anbeten. Also versuche ich mich zu erinnern, dass es Anbetung ist, wenn ich mich genug bewege. Es ist Lobpreis, wenn ich ausreichend schlafe oder mich körperlich entspanne und ich preise Gott, wenn ich mir Zeit nehme, ein gesundes Essen vorzubereiten. Ich gebe Gott die Ehre, wenn ich mich als ganzen Menschen, der ein Teil dieser wunderbaren Schöpfung ist, hege und pflege. Ich spüre, wie wichtig es ist, den damit verbundenen Gefühlen von Freude und Dankbarkeit Raum zu geben. Seit einiger Zeit versuche ich konsequent einen Vormittag in der Woche (also meine produktivste Zeit des Tages) freizuhalten, um Sport zu machen, zu lesen oder einfach etwas zu tun, was mir als ganzer Person mit Leib, Seele und Geist gerade Freude macht. Ich mache wunderbare neue Erfahrungen, die mein Leib mit jedem Mal mehr verinnerlicht und die so zu guten neuen Gewohnheiten werden können.
In dieser Spannung zwischen Bebauen und Bewahren wird sich mein Leben auch in Zukunft bewegen. Ich möchte meinen Auftrag und meine Verantwortung gerne annehmen und umsetzen, nicht aus Druck, sondern freiwillig. Ausgerichtet auf Jesus und mit der Ewigkeitsperspektive im Herzen möchte ich in aller Freiheit einwilligen: Ja, ich will mich verschenken, will bebauen und ja, ich will bewahren, hegen und pflegen zur Ehre Gottes, der mir mein Leben geschenkt hat. Im konkreten Fall heißt das Ja- und Neinsagen zu lernen. Darum frage ich Jesus fast täglich ganz konkret: Was ist heute tatsächlich meine Verantwortung? Was ist heute wichtig? Ich will lernen, auf seine Antwort zu warten, bevor ich meine gebe.