Karikatur einer Person über gemusterten Boden laufend

Wenn alte Gefühle mein Heute bestimmen

Im Immanuel-Gebet Jesus begegnen

Sabrina (Name und Situation geändert) kommt in die Seelsorge, weil sie immer wieder in Paniklöcher stürzt: „Ich schaffe das alles nicht! Ich bin nicht gut genug! Besser, ich schmeiße alles hin!“ Sie ist eine in Teilzeit tätige erfolgreiche Geschäftsfrau, eine warmherzige Ehefrau und Mutter und geschätzte Mitarbeiterin in ihrer Gemeinde. Ihr Leben ist geordnet. Äußerlich schafft sie die Anforderungen ihres Alltags ohne Probleme. Sie nimmt sich in angemessener Weise freie Zeiten, Auszeiten und Urlaube allein und mit der Familie. Es scheint keinen äußeren Grund für ihr tiefes Überforderungsgefühl zu geben. Sabrina ist kein „Fall“ für einen Ordnungscoach oder ein Zeitplanseminar.

Wir bitten Jesus, dass er die Wurzel dieser Gefühle aufzeigt. Im Gebet erinnert er Sabrina daran, wie ihre depressive Mutter immer wieder drohte, sich umzubringen - oder die Kinder. Der Vater stand hilflos daneben und zog sich in sich selbst zurück. Die kleine Sabrina und ihre Geschwister waren weitgehend sich selbst überlassen. Natürlich waren die Kinder damit überfordert! Die grundlegende Überforderung liegt zuallererst darin, dass es kein verlässliches emotionales Gegenüber für die Kinder gab, niemanden, an den sie sich sicher und tief hätten binden können. Sie mussten meist mit ihren eigenen Gefühlen und kindlichen Ängsten alleine zurechtkommen. Und wie überwältigend solche Ängste werden können, weil ein Kind Alltagssituationen nicht überblicken und verstehen kann, wie Erwachsene es könnten! Zudem fühlte Sabrina, wie Kinder es oft tun, eine Verantwortung für die Mutter: Was muss ich tun, damit es ihr besser geht? War da vielleicht auch Verantwortung für den Vater, für die Geschwister? Und trotzdem musste Sabrina immer wieder erfahren, dass sie nicht genügend tun konnte, um die Situation zu ändern. Zu viel! Zu schwer! Ich bin nicht gut genug! Das alles überfordert mich heillos! Es wurde klar, dass dieses Gefühl aus Sabrinas Vergangenheit stammte und nicht primär aus der Gegenwart.

Sabrinas Erfahrung ist keine Ausnahme. Immer wieder erleben wir, dass alte ungelöste Gefühle unsere Wahrnehmung einer heutigen Situation bestimmen, auch wenn das der Realität gar nicht entspricht. Irgendein kleineres oder größeres Element der heutigen Erfahrung erinnert uns unbewusst an damals. Es geschieht eine Aktualisierung der damaligen Erfahrung: Wir fühlen dann in der heutigen Situation ganz ähnlich, wie wir damals gefühlt haben. Das geschieht auch, wenn die heutige Situation in wesentlichen Elementen ganz anders gelagert ist. So ist Sabrina heute von ihrem Alltag in der Regel nicht überfordert. Sie hat auch viele Erlebnisse von Erfolg und Gelingen. Aber manchmal gibt es doch stressige Situationen oder sie ist einfach müde nach einigen intensiven Tagen. Dieser Stress oder diese Müdigkeit wirken als Auslöser, die die alten Gefühle unbewusst hochholen: Ich schaffe das alles nicht. Ich bin nicht gut genug!

Neben solch alten Gefühlen, die auf heute übertragen werden, gibt es auch das Phänomen innerer Überzeugungen, die unser Verhalten und unsere Deutungen des Lebens bestimmen und uns unter Druck bringen. Wir nehmen sie als „innere Antreiber“ wahr. Diese Überzeugungen sind oft ebenfalls in der Kindheit entstanden, sind von uns aber so verinnerlicht worden, dass sie uns heute meist gar nicht mehr bewusst sind. Häufige Antreiber waren oder sind z.B.: Sei stark! Sei perfekt! Mach es allen recht! Streng dich an! Mach schnell! Wer sich so verhält, bekommt Anerkennung und Zuwendung.

So war es im Elternhaus vielleicht nicht erwünscht, Gefühle zu zeigen, zu weinen, Angst zu haben. Immer wenn das Kind sich so verhielt, zeigten sich die Eltern desinteressiert oder gar ablehnend. So ein Kind entwickelt vielleicht die innere Überzeugung, also einen inneren Antreiber: „Ich muss stark sein. Ich muss alleine zurechtkommen.“ Dieser Antreiber ist sehr eng mit Gefühlen verknüpft, der Sehnsucht nach Nähe und bedingungsloser Annahme und dem tiefen Schmerz darüber, das nicht ausreichend bekommen zu haben.

Der innere Antreiber versucht nun immer wieder, uns zu der Erfahrung der Annahme zu verhelfen. Die so erreichte Annahme ist aber nicht so bedingungslos, wie es jedes Kind eigentlich braucht. Der Antreiber bleibt immerzu aktiv: immer mehr, immer besser. In vielen Situationen des Lebens fällt dieser innere Antreiber nicht auf. Ja, vielleicht macht so ein Kind sogar einen besonders positiven Eindruck auf andere: Es ist „unkompliziert“ und „selbstständig“. Da aber kein Leben ohne Schwierigkeiten bleibt, brauchen wir alle irgendwann einmal Hilfe von anderen. Wir müssen zugeben können, wenn etwas unsere Ressourcen an Zeit oder Kraft oder Fähigkeiten übersteigt. Hier wird dann die Überzeugung „ich muss alleine zurechtkommen“ zum Fallstrick. Wir versuchen vielleicht, ein Pensum an Aufgaben zu bewältigen, für das 24 Stunden täglich einfach nicht genug sind. Je mehr wir es versuchen, umso erschöpfter werden wir, bis wir schließlich im Burnout landen.

Sowohl die Übertragung alter ungelöster Gefühle, als auch die Botschaften innerer Antreiber liegen auf der Ebene des Herzens, nicht auf der des Kopfes. „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“ gilt hier eben nicht. So ist es zwar ein hilfreicher erster Schritt, wenn wir verstehen, woher die Gefühle oder inneren Überzeugungen und Antreiber kommen. Aber sie zu erkennen, verändert sie noch nicht. Unser Kopf erreicht diese tiefen Gefühle nicht. Sie sind in unserem Nervensystem abgespeichert und treiben unser ungesundes Verhalten und unser von der Vergangenheit bestimmtes Erleben an. Wir haben uns nicht als Erwachsene bewusst dafür entschieden und können uns auch nicht per Entschluss wieder aus diesem Erleben lösen. Wenn wir versuchen, mit festen Entschlüssen und mit Willenskraft unser Verhalten und Empfinden zu ändern, dann gleicht das einem Kampf gegen Windmühlenflügel: Es kostet enorme Kraft und bringt sehr wenig Erfolg. Ungelöste alte Überzeugungen lassen sich allenfalls wieder ins Unbewusste zurückdrängen. Von dort aus aber bestimmen sie unser Verhalten und Erleben weiter.

Manche Ansätze von Seelsorge und manches Verständnis vom christlichen Glauben greifen hier zu kurz, wenn sie vorschlagen, den Gefühlen nicht so viel Raum zu geben, sondern den Glauben von den erkannten Wahrheiten (des Kopfes) steuern zu lassen. In Bezug auf die Wissensinhalte des Glaubens stimmt das zwar, nicht aber in Bezug auf den erlebten Beziehungsaspekt der Begegnung mit Gott. Jesus zitiert als oberstes Gebot (Mk 12,30): Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Er spielt nicht die Gefühle gegen den Kopf aus. Er macht deutlich, dass alle Aspekte unseres Seins in die Begegnung mit Gott hineinkommen sollen und dürfen.

Wenn ich wirklich die Nähe Gottes erleben will, sie nicht nur wissen, wenn ich erfahren will, dass er tief eingegrabene emotionale Muster und Überzeugungen in mir löst und mein Fühlen und Verhalten tiefgreifend verändert, dann muss ich mit ihm zusammen auf die Ebene meines Inneren gehen, auf der die Probleme sitzen: auf die Gefühlsebene. Wir machen es nicht gerne, aber es ist unerlässlich, dass wir uns den alten Gefühlen stellen. Dort, in den Gefühlen, will Jesus mir begegnen. Dort will er neue Erfahrungen von bedingungsloser Annahme, von Trost, von emotionaler Heilung schenken. Nur ein Trost, der erfahren wird, löst die Schmerzen und korrigiert alte, emotional verankerte Überzeugungen. Kopfwissen kann das nicht bewirken.

Der Weg zu einer Jesusbegegnung auf der Gefühlsebene ist mal länger, mal kürzer. Für Menschen, die es nicht geübt haben, ihre Gefühle wahr- und ernstzunehmen, ist das eine neue Haltung, die sie erst lernen müssen: ruhig werden; wahrnehmen, was in mir abläuft; Worte finden für das in mir, was bisher ungehört war; nicht sofort mit dem Kopfwissen sortieren, welche Gefühle sein dürfen und welche nicht; annehmen, dass ich so fühle; akzeptieren, dass es gute Gründe in meiner Biografie gab, warum diese Gefühle entstanden.

Ebenso ist es nötig, dass wir unseren Glauben als eine Begegnung mit Jesus erfahren, nicht nur als ein Nachdenken über ihn. Im besten Fall kann ich in meinem Alltag, in den Gebets- oder Anbetungszeiten immer wieder spüren, wie die Liebe Jesu mich berührt, wie seine Annahme mich ermutigt und seine Stärke mir Halt gibt. Auch das ist uns oft ungewohnt. Wir strecken im Gebet unsere „Antennen“ gar nicht danach aus, wahrzunehmen, wie die Nähe Jesu, die wir mit dem Kopf glauben, uns innerlich, emotional und vielleicht auch körperlich berührt. Es kann uns eine Hilfe sein, dies bewusst in kleinen Schritten einzuüben.

Von dort aus kann dann Jesus, der mit seiner Liebe erfahrbar in unseren Herzen gegenwärtig ist, in einem inneren, oft bildhaften Prozess, zu den alten Gefühlen, Situationen und Überzeugungen gehen und dort Veränderung bringen.

Ich leitete Sabrina mithilfe des Immanuel-Gebets in eine innere Jesus-Begegnung. In seiner Gegenwart ließ Sabrina die alten Gefühle bewusst werden. Wir baten ihn, dass er die immer noch tief abgespeicherte alte Überforderung der kleinen Sabrina löste, damit die erwachsene Sabrina die Gefühle der Vergangenheit hinter sich lassen könne. Sie sah innerlich: Jesus war auch in ihrer Kindheit mit dabei gewesen, er machte klar, dass er alle ihre Gefühle verstand und mitfühlte. Sie spürte, dass sie in seiner Nähe gar nichts tun musste, dass es keine Frage war, ob sie genügte oder wie Jesus sie beurteilte. Sie kuschelte sich an ihn, fühlte sich umhüllt und geborgen. Schließlich fühlte sie eine tiefe Entspannung und gute Müdigkeit, als sie alle Anforderungen des früheren und des heutigen Lebens in der Umarmung Jesu loslassen konnte.

Vielleicht wird es noch ein paar weitere solcher Immanuel-Gebete brauchen. Die Lasten, die die kleine Sabrina notgedrungen schultern musste, erstreckten sich über viele Jahre ihrer Kindheit. Überforderung muss das sicher gut verdrängte Lebensgrundgefühl dieses Mädchens gewesen sein. Vermutlich gibt es weitere innere Kinder mit ganz ähnlichen Lasten. Aber wir wissen, dass es auch für jedes weitere innere Kind in der Gegenwart Jesu Entlastung geben wird.

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