Eine Frau wäscht ihre Füße im Spülbecken.

Plädoyer für den Alltag

Betrachtung zu 2.Moose 3

Es verspricht, ein heißer Tag zu werden. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, nur ein dunstiger Schleier liegt über der Steppe Midians. Die Schafe im Pferch werden unruhig und drängen sich am Gatter zusammen, als Mose an die Tür seines Zeltes tritt. Drinnen murmelt sein Sohn Gerschon im Schlaf, doch Zippora, seine Frau, ist schon eifrig dabei, das Feuer wieder in Gang zu bringen. Mose liebt diese Augenblicke zwischen Aufstehen und Arbeitsbeginn, wenn der Tag so unverbraucht vor ihm liegt. Gleich wird er sich aufmachen, die Schafe seines Schwiegervaters Jethro aus dem Pferch lassen und sie in die Steppe hinein treiben, dorthin, wo er noch frisches Gras vermutet. So war es gestern und so wird es morgen sein. Jeden Tag ist er unterwegs und hat diese karge Landschaft mittlerweile lieben gelernt. Kaum jemand würde in ihm den ägyptischen Herrn erkennen, der er einst war und auch das hebräische Sklavenvolk, dem er angehörte, ist weit weg. Nun ist er Schafhirte, seit 40 Jahren schon und nichts deutet an diesem frühen Morgen darauf hin, dass das jemals anders werden wird. Mose ist zufrieden. Er nickt Zippora grüßend zu und macht sich zum Aufbruch bereit.

Ein Tag wie jeder andere im Leben des Schafhirten Mose – Alltag.
Schlafen, Aufstehen, Essen, Arbeiten – alles wie immer.
Und an solch einem Tag, der sich in nichts von den anderen unterscheidet, hört Mose, nachdem er weit über die Steppe hinaus gewandert ist und neugierig einen Dornbusch beäugt, der dort brennt, aber nicht verbrennt, ganz deutlich die Worte: Zieh deine Schuhe von deinen Füßen, denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land.

Der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land.
Wo steht Mose denn? Am Fuße des Berges Horeb, der von alters her als Heiligtum galt.
Wo steht Mose? Auf dem Steppenboden, auf dem er jeden Tag unterwegs ist, um Futter für seine Schafe aufzutreiben. Staubig, steinig und einsam ist es hier – und das ist „heiliges Land“?

Die Kultur, in der Mose lebte, kannte durchaus besondere Orte und Feste und herausragende Tage, in denen die Zeit anders lief, doch Gott hat sich ausgedacht, Mose dort zu begegnen, wo er im Alltag war.
Genauso hat Er es mit Gideon gemacht, der auf der Tenne Weizen drosch oder mit dem Priester Zacharias, der seinen Dienst im Tempel ausübte, oder mit Maria, der jungen Frau aus Nazareth, oder mit Petrus und Johannes, die beim Fischen waren oder mit Levi, der wie jeden Tag an seiner Zollstation saß oder oder oder.

Alltag – heiliges Land?

Alltag – oft mühsam, manchmal langweilig – der Ort, an dem Gott mir begegnen will?
Alltag – im Büro, in der Schule, am Fließband, hinter dem Verkaufstresen, zwischen Kochtöpfen und Schmutzwäschebergen – der Ort, an dem Gott zu mir sprechen will?

Was wäre, wenn das wahr wäre?
Müsste ich dann immer barfuß laufen?

Überraschende Begegnungen

Vielleicht tatsächlich in einem übertragenen Sinn, denn wer barfuß läuft, geht vorsichtiger, achtsamer.
Wer achtsamer geht, hört eher die – oft leise – Stimme, die ihn anhalten und innehalten lässt.

Was sagt diese Stimme?
Zu Mose sagt sie: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. … So geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Kinder Israel, aus Ägypten führst.
So überwältigend ist diese Ansprache, dass Mose nur bleibt zu fragen: Wer bin ich?
Gottesbegegnung führt zur Selbstbegegnung. Das ist immer so.

Mose hat viele, viele Kilometer zurückgelegt und sein altes Leben hinter sich gelassen, seine ohnehin schwierige und zerrissene Identität als Sohn eines Sklavenvolkes und als vornehmer Jüngling im Pharaonenpalast, als Mörder und Flüchtling. Doch nun in der Steppe, an seinem Alltagsort, wo nichts weiter ist als Steine und ein merkwürdig brennendes Dornengestrüpp, begegnet er Gott und damit sich selbst.
Wer bin ich?

Doch bei der Frage nach sich selbst bleibt Mose nicht stehen. Das allein würde ihn vielleicht so sehr lähmen, dass er überhaupt keinen Schritt mehr machen könnte.
So fragt er weiter: Wer bist du?
Selbstbegegnung führt zur Gottesbegegnung. Auch das ist immer so für den, der hören und sehen will.

Gott antwortet auf diese Frage. Er sagt: Ich bin der Ich bin da.
Im Hebräischen stehen da nur 4 Buchstaben J-H-W-H, für uns als Jahwe ausgeschrieben. Im Deutschen gibt es verschiedene Möglichkeiten, diesen kleinen Satz zu erfassen: Ich bin und Ich bin, der ins Dasein bringt/ins Dasein setzt/ruft. Da dieser Satz J-H-W-H, grammatikalisch gesehen, im immerwährenden Präsens steht, müsste man übersetzen: Ich bin da und zugleich Ich war da und Ich werde da sein.

Alltägliches Evangelium

Ich bin der Ich bin da – was für ein Name!
Gott ist da. In der Einöde, in der Mose sich gerade befindet.
In den sich überstürzenden Terminen, die meinen Alltag vielleicht ausmachen. In der öden Langeweile ungeliebter Arbeit. In dem Vielerlei der Zerstreuung. Gott ist da.
Das ist Evangelium, gute Botschaft mitten im Alltag.

Deshalb ist der Ort – das Hier – heilig, deshalb ist die Zeit – das Jetzt – heilig, weil Gott da ist. Nicht mein Schuhe-Ausziehen oder irgendwelche Rituale machen die Gegenwart heilig, sondern das Versprechen Gottes, in meinem Hier und Jetzt gegenwärtig zu sein.

Auch im Neuen Testament wird die Tatsache, dass Gott der Gegenwärtige ist, sehr betont.
Jesu Geburt wird dem Joseph durch einen Engel angekündigt mit Worten aus dem Propheten Jesaja: Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Immanuel heißen, das ist verdolmetscht: Gott mit uns. (Mt 1,23)
Und ganz am Ende des Matthäusevangeliums sagt Jesus: … und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende (Mt 28,20).
Es gibt keinen Ort und keine Zeit, an dem bzw. in der Gott nicht anwesend ist.

Veränderte Sichtweise

Gottes Name ist alltagstauglich. Probieren Sie es aus! Sprechen Sie ihn morgens, bevor der Tag über Sie hereinbricht oder abends, wenn Sie müde und ausgelaugt sind, in jeder Situation, die angespannt, angstmachend oder langweilig ist, laut aus: Gott ist da. Oder auch: Gott, du bist da. Du bist Immanuel, Gott mit uns. Und es wird einen Unterschied machen.

Gott lässt uns nicht allein unseren Weg ziehen, Er ist dabei. Weil das so ist, muss der Alltag nicht mehr eine Zeit und ein Ort sein, den es möglichst schnell zu überwinden gilt. Sondern er ist – unabhängig davon, ob ich diese gerade spüre oder nicht – ein heiliger Ort, erfüllt mit Gottes Gegenwart. Deshalb kann Karl Rahner sagen:

Lass ruhig den Alltag Alltag sein.
Er muss unversüßt und unidealisiert
bestanden werden.

Dann nur ist er gerade das,
was er für den Christen sein soll:
der Raum des Glaubens,
die Schule der Nüchternheit,
die Einübung der Geduld,
die heilsame Entlarvung der großen Worte
und der unechten Ideale,
die stille Gelegenheit,
wahrhaft zu lieben und getreu zu sein,
die Bewährung der Sachlichkeit,
die der Same der letzten Weisheit ist.

Weisheit, das klingt nach einer altmodischen Tugend. Doch weise zu sein heißt, die Welt mit Gottes Augen sehen zu können. Denn unter der Oberflächlichkeit und der Hetze des Alltags, hinter den schlimmen Nachrichten aus aller Welt und allem Leid und Schmerz pulsiert eine Welt, die voll ist von Gott, überbordend von Schönheit und Leben und allen Zeichen der Liebe Gottes, unzerstörbares Leben. Zu sehen nur von den Augen des Glaubens.

Die Erde
ist randvoll mit Himmel,
und in jedem gewöhnlichen Dornbusch
brennt Gott.
Aber nur jene,
die sehen können,
ziehen ihre Schuhe aus;
die anderen sitzen drumherum
und pflücken Brombeeren.
Elizabeth Barrett Browning

Sehen wir das? Wenigstens manchmal? Dann kann es passieren, dass uns die Menschen um uns herum für verrückt halten. Doch dann gibt es auch echte Hoffnung und Freude. Denn Hoffnung und Freude sind Markenzeichen dieser unsichtbaren und doch ganz wirklichen Welt, an der wir durch Jesus jetzt schon Anteil haben können.
Und diese Klarsicht, diese Weisheit, die tiefer sieht, wächst im Alltag, vielleicht sogar nur im Alltag. Und deshalb ist Alltag nicht nur eine Aufgabe, sondern vor allem eine Gabe an uns.

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