Wasser sammelt sich in einer Schale aus Händen.

Von der Zeit als einem göttlichen Geheimnis

Kronos – der unbarmherzige Vater der Zeit

Die Griechen kannten zwei Wörter für Zeit. Und beiden Begriffen ordneten sie Götter zu. Das zeigt, dass die Zeit für sie ein göttliches Geheimnis war, dass sie nicht einfach nur etwas rein Äußerliches war, das man mit der Uhr messen konnte.
Das eigentliche Wort für Zeit war „chronos“. Chronos wurde mit dem Gott Kronos identifiziert, der „der unbarmherzige Vater der Zeit“ ist. Kronos war ein Sohn des Uranos und der Gaia. Er befreite seine Geschwister aus dem Leib der Erde, in den Uranos die Neugeborenen zurückgestoßen hatte. So wurde er der Anführer der Titanen. Mit seiner Schwester Rheia zeugte Kronos die olympischen Götter. Doch aus Angst vor einem männlichen Nachfolger verschlang er seine Kinder. Nur das jüngste Kind, Zeus, konnte Rheia retten. … Als Zeus herangewachsen war, zwang er seinen Vater, seine Geschwister auszuspeien. Mit ihrer Hilfe überwand Zeus den Kronos und regierte nun vom Olymp aus das Geschick der Menschen.
Wenn wir diesen Mythos deuten, so wird ein wesentlicher Aspekt der Zeit sichtbar. Die Zeit verschlingt ihre Kinder. Die Zeit hat Angst vor einem Nachfolger, Angst vor der Zukunft. Sie ist von Angst geprägt und getrieben. Der alte griechische Mythos wirft ein Licht auf die bis heute feststellbare Angst der Menschen, die Zeit könne ihnen abhanden kommen. Und wir können es tatsächlich bis heute und im ganz normalen Alltag immer wieder beobachten: In einer Zeit, die nur nach dem „Chronometer“ gemessen wird, kann nichts aufblühen. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Kinder verschlungen werden. Was sich der Zeit nicht unterwirft – und Kinder lassen sich nicht in das enge Korsett unserer messbaren Zeit pressen –, darf nicht aufblühen. …
In der westlichen Welt herrscht immer mehr Kronos. Unter seiner Tyrannei leiden heute wohl die meisten Menschen. Doch die Herrschaft des Kronos führt nicht dazu, dass die Zeit effektiv genutzt wird. Sie erzeugt nur Druck und Angst, doch keine Fruchtbarkeit. Es wächst nichts Neues. Es entsteht nichts, was bleibt. Alles geht rasend weiter. (…)

Kairos – Der Gott des rechten Augenblicks

Der andere Ausdruck für Zeit in der griechischen Tradition ist „kairos“. Kairos ist der rechte Augenblick, die Gelegenheit, der Vorteil, das rechte Maß. … Der griechische Gott des rechten Augenblicks hat, wenn er bildlich dargestellt wird, an den Füßen oder an den Schultern Flügel. Er geht auf Zehenspitzen oder steht auf Rädern und balanciert eine Waage auf einer Rasierklinge. Interessant ist sein Kopf. Auf der Stirn trägt er einen Haarschopf. Der Hinterkopf ist dagegen kahl. Mit dieser Darstellung wollten die Griechen zeigen: Man muss die Gelegenheit beim Schopfe packen. Der Augenblick ist flüchtig, so wie es der glatte Hinterkopf zeigt. Wenn der Augenblick vorbei geeilt ist, kann man ihn nicht einholen. Daher muss man dem Kairos von vorne begegnen und ihn ergreifen, sobald er sich zeigt. …

Die erfüllte Zeit – das Verständnis der Bibel

Im Neuen Testament hat der Kairos eine große Bedeutung. Kairos ist der entscheidende Zeitpunkt, an dem Gott dem Menschen das Heil anbietet. Doch die Menschen haben die Zeit der Gnade nicht erkannt (Lk 19,44). Das erste Wort, dass Jesus im Markusevangelium spricht, lautet: „Die Zeit (kairos) ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe“ (Mk 1,15). Zeit ist immer jener Augenblick, in dem ich Gott begegne, in dem Gott mir seine Nähe zeigen und mir seine Gnade und Zuwendung schenken möchte. Meine Aufgabe ist es, mich auf diesen Augenblick einzulassen und mich für Gottes heilende und liebende Nähe zu entscheiden, anstatt vor mir und vor Gott davonzulaufen in eine Zeit hinein, die einfach nur verrinnt. Die erfüllte Zeit ist nach diesem Verständnis die Zeit, in der Zeit und Ewigkeit zusammenfallen. Es ist die Zeit, die von Gott erfüllt ist. Die Mystiker haben über die Fülle der Zeit nachgedacht, allen voran Meister Eckhart, der darüber schreibt, dass Gott selbst in die Zeit gekommen ist und sie dadurch verwandelt hat. Durch die Menschwerdung Gottes hat sie eine andere Qualität bekommen. Die Zeit ist nicht mehr ein knappes Gut, das der Mensch möglichst ausnutzen muss, sondern der Ort, an dem der Mensch mit Gott eins wird. Wer ganz im Augenblick ist, für den erfüllt sich die Zeit, der wird von Gott erfüllt, der wird eins mit sich und mit Gott, für den steht die Zeit still.
Paulus zitiert im zweiten Korintherbrief den Propheten Jesaja: „Zur Zeit der Gnade erhöre ich dich, am Tag der Rettung helfe ich dir“ (2 Kor 6,2; Jes 49,8). Und dann behauptet er: „Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist er da, der Tag der Rettung“ (2 Kor 6,2). Im Griechischen heißt es eigentlich: „Jetzt ist die hochwillkommene Zeit (kairos euprosdektos)“. „Dektos“ ist das, was man annehmen kann, woran man Wohlgefallen findet, was angenehm ist. Für Paulus ist die angenehme Zeit die Zeit, die vom göttlichen Wohlgefallen und von der Gegenwart Gottes geprägt ist. …
Jesus Christus ist bei uns. Durch ihn ist die Zeit in ihre Fülle gekommen. Alle Sehnsucht nach einer Heilszeit, nach einer Zeit, in der der Mensch heil wird und zu seinem wahren Wesen kommt, ist in Jesus Christus erfüllt worden. Daher leben wir jetzt in einer Zeit der Gnade und des göttlichen Wohlwollens.

Achtsamkeit mitten im Alltag

Was mit den Worten Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Behutsamkeit und Wahrnehmen gemeint ist, das beschreibt Benedikt in seiner Regel mit dem Wort „custodire“ – Acht geben, wachen, bewusst wahrnehmen. Benedikt fordert die Mönche auf, jederzeit „die Taten ihres Lebens (zu) bewachen“ (RB 4,48). Sie sollen also zu jeder Stunde Acht geben auf das, was sie gerade tun. Sie sollen ganz im Tun sein, anstatt sich in die Aktivität zu flüchten. Viele arbeiten zwar viel, aber sie sind nicht bei der Arbeit. In der Arbeit fliehen sie vor der eigenen Wirklichkeit. …

Wie kann man Achtsamkeit einüben?

Mir persönlich hilft folgende Übung: Ich gehe bewusst einmal ganz langsam durch einen Gang oder durch die Natur. Unser Novizenmeister hat uns geraten, nach dem Chorgebet langsam durch den Kreuzgang zu gehen mit der Vorstellung, dass wir das Kostbare, das wir im Gebet empfangen haben, wie in einer Schale tragen, so dass nichts davon verschüttet wird. …
Vielleicht kannst du, lieber Leser, liebe Leserin, es täglich einmal üben: ein paar Minuten oder nur ein paar Augenblicke einmal ganz langsam zu gehen, im Bewusstsein, dass du etwas Kostbares in dir trägst. In dir ist ja Christus, ein Geheimnis, das dich übersteigt. In dir ist ein Stück Ewigkeit. Trage dieses Ewige, Zeitlose, Geheimnisvolle, Kostbare ganz langsam durch den Raum oder gehe einmal ganz langsam durch den Park, so dass du in deinen Händen jeden Lufthauch spürst. Dann wirst du spüren, wie du ganz im Augenblick bist. Du wirst ruhig. Du spürst in dir etwas, das der Zeit enthoben ist, etwas Heiliges und Kostbares, über das die Zeit keine Macht hat. … Von dieser Erfahrung aus kannst du dich dann wieder der Schnelligkeit zuwenden, ohne dich von ihr bestimmen zu lassen. …

Alles hat seine Zeit

Schon die Bibel hat über das Geheimnis der Zeit nachgedacht. Am bekanntesten ist wohl ein Gedicht, das der Weisheitslehrer Kohelet um das Jahr 180 vor Christus verfasst hat und in dem er griechische und jüdische Weisheit miteinander zu verbinden versucht. …
Der Mensch – so meint der Weisheitslehrer – kann das Geheimnis des Lebens nicht durchschauen. Es bleibt ihm nur, alles, was er erlebt, als von Gottes unbegreiflicher Hand geschaffen anzunehmen. … Die Aufgabe des Menschen besteht darin, den jeweiligen Augenblick als den entscheidenden zu verstehen. Jeder Augenblick hat seine eigene Qualität, doch ich kann mir diese nicht aussuchen. Sie ist von Gott verfügt. Nur wenn ich mich dem Geheimnis Gottes und der von ihm verfügten Zeit beuge, lebe ich richtig. Dann gelingt mein Leben. …
Kohelet deutet den Wechsel der Zeiten als etwas Vollkommenes und Schönes: „Gott hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan. Überdies hat er die Ewigkeit in alles hineingelegt, doch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott getan hat, von seinem Anfang bis zu seinem Ende wiederfinden könnte“ (Koh 3,11).
Gott hat alles gut gemacht. Das gilt auch von der Zeit. Ich muss meine Maßstäbe, die ich an die Zeit anlege, loslassen. Meine Vorstellung ist, dass es nur gute Zeiten für mich geben sollte. Doch Kohelet meint, jede Zeit sei eine gute Zeit, auch die Zeit des Weinens und Trauerns. In jede Zeit hat Gott Ewigkeit hineingelegt. Jede Zeit hat also Anteil an Gottes Sein, an Gottes Ewigkeit. In jedem Augenblick steckt ein Stück Ewigkeit. Und wenn ich mich einlasse auf den Augenblick, berühre ich das Ewige, berühre ich letztlich Gott selbst. Gottes Ewigkeit ist in der Zeit verborgen. …
So lädt mich Kohelet ein, darauf zu vertrauen, dass alles gut ist. Doch das ist keine theoretische Einsicht, sondern ein Erschauern des Menschen, ein Sich-Ergeben in Gottes Unbegreiflichkeit. Es ist letztlich „Furcht Gottes“, Niederfallen vor dem oft undurchschaubaren Gott. …
„Jetzt erkannte ich: Alles, was Gott tut, geschieht in Ewigkeit. Man kann nichts hinzufügen und nichts abschneiden, und Gott hat bewirkt, dass die Menschen ihn fürchten“ (Koh 3,14).
Nur wer das einsieht und damit einverstanden ist, erfährt in der Zeit Glück. Das Glück kann ich nicht machen, genauso wenig, wie ich die Zeit zu erschaffen vermag. Doch wenn ich ja sage zu jedem Augenblick und ganz in dem bin, was gerade ist, dann fällt aller Druck von mir ab, den ich mir selbst auferlegt haben, und ich erahne Freiheit, Frieden und Glück.

Der Text stammt aus dem sehr empfehlenswerten Buch von Anselm Grün: Im Zeitmaß der Mönche, © Herder Spektrum, Freiburg 2003

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